Bastard Ass(i) from Hell #33

Es ist höllisch früh am Morgen, praktisch noch Nacht, aber ich bin schon in meinem Büro. Ein schweres Los, das ich da zu tragen habe! Vorsichtig hebe ich das linke Augenlid und blinzele auf die Uhr in meinem Display, auf dem die Reste von 'Monkey Island' zu sehen sind. Sie zeigt halb elf Uhr an. Na bitte! Sagt' ich's nicht?

Ich schließe die Augen wieder und taste mich vorsichtig durch den Gang zur Kaffeemaschine. Den Weg würde ich auch im Tiefschlaf finden!

"Guten Morgen! Wir würden Sie mal gerne fragen: Haben Sie sich schon mal Gedanken über die Bibel gemacht?"

Ich halte an und öffne beide Augen zu einem winzigen Spalt. Das harte Neonlicht der Lampen in unserem Flur malträtiert meine armen Netzhäute. Vor mir stehen zwei Typen mit Anzug und Krawatte und grinsen mich freundlich an. Beide haben glänzende Schuhe, eine schmale Aktenmappe unter dem rechten Arm, kurz geschnittene Haare und das typisch-dämliche Wachturm-Zeugen-Jehovas-Missions-Grinsen auf der Fratze. Ich fass' es nicht! Zu nachtschlafender Zeit! Am LEERstuhl!

Ich sage: "Äh... nein! Heute noch nicht..." "Na, das sollten Sie aber mal nachholen", sagt der Ältere, und der Jüngere grinst aufmunternd zu diesen herzerwärmenden Worten. "Wenn Sie wollen, können wir Ihnen dabei behilflich sein. Sofort, wenn Sie wollen. Wir haben viel Zeit."´Ich nicke den beiden Halluzinationen beruhigend zu und gieße mir erst einmal einen Becher Morgens-Nachmittags-und-Abends-Droge hinter die Binde. Als ich die Augen wieder aufmache, stehen die beiden immer noch im Gang und grinsen mich an. Teufel! Also doch keine Halluzination!

"Ja... wie wär's, wenn wir in mein Büro gehen", sage ich, und die beiden ZJs strahlen. In Nullkommanix haben sie aus ihren Aktentaschen abgegriffene Bibeln mit hunderten von Merkern an der Seite herausgeholt. Der Ältere fängt an und ich schalte beide Ohren auf Durchzug. Immerhin schaut es vom Gang her so aus, als ob ich mit schwierigen Verhandlungen befasst wäre, und niemand wagt es, meine Morgenruhe zu stören. Niemand außer Leo. Leo ist unser neuester Mitarbeiter. Der geborene Spezialist, Fachidiot, Elfenbeinturmhocker, so ein richtiger Bytewusler, für den die Welt nur aus Rechnern, Nicht-Rechnern und ein paar Quanteneffekten am Rande besteht. Der ältere ZJ sagt gerade: "... und daher sind wir durch Gottes Wort gewarnt. HIER finden Sie alles. ALLES war schon einmal da gewesen. WIR sind vorbereitet. Denken Sie nur an Sodom und Gomorrha..." als Leo ohne anzuklopfen in mein Büro platzt. Er starrt mich durch seine dicken Brillengläser, Stärke minus 8, aufgeregt an und ruft: "Mensch, Leisch! Ich habs! Der back-getrackte Viterbi-Beam-Search hat retro-gradiente Tensorschwankungen in GOS verursacht. DESHALB ist die Fusionssimulation explodiert!"

Jetzt erst bemerkt Leo, dass ich nicht allein bin. "Die Herren sind von der Wachtturm-Gesellschaft", stelle ich vor, und die beiden ZJs grinsen wieder freundlich. "Oh, hallo", meint Leo und späht kurzsichtig durch die dicken Linsen, "Software oder Hardware?"
Das Grinsen der beiden ZJs wird tendenziell fragend: "Äh... wie meinen...?" "Eher Software. Wir sprachen gerade über Sodom und Gomorrha", sage ich erläuternd. Leo schaut verständnislos: "Das neue Micro-Code-Protokoll für den assoziativen Mega-Cache?" "Nein, nein", schaltet sich der jüngere ZJ ein, "Sodom und Gomorrha.  Sie wissen doch: die Städte, die wegen ihrer Sündhaftigkeit mit Feuer und Schwefel ausradiert wurden." Leo schaut verdutzt: "Wann soll'n das gewesen sein? Da hätt' ich doch was übers Internet mitbekommen müssen..." Die beiden ZJs starren ihn an, als ob er geradewegs vom Himmel zu uns ins Büro gestiegen wäre. "Ja, haben Sie denn noch nie das erste Buch Mose gelesen?" fragt der Ältere fassungslos mit zitternder Stimme. Schweißtropfen hängen ihm in den gesträubten Augenbrauen. Leo's gefurchte Stirn hellt sich auf: "Multiple Operations Systems Environment. Klar, kenn' ich doch! Ist aber ein alter Hut. Heute benutzt doch jeder schon lange keine GOD- Strukturen mehr..." Den beiden ZJs dämmert es, dass hier ein ernsthaftes Kommunikationsproblem vorliegen könnte. Wie kann man jemanden Angst vor dem jüngsten Gericht einjagen, wenn er nicht einmal die einfachsten Grundbegriffe des Buchs der Bücher kennt. "Aber.. aber die Bibel haben Sie doch schon bestimmt mal gelesen...  nein? Aber davon gehört?" fragt der Ältere hoffnungsvoll. "Hmm, ja", meint Leo nachdenklich. "Im alten NextStep war immer eine Datei 'Bibel.txt' mit dabei. Die haben wir immer für die Performance-Benchmark mit spell verwendet..." "Was??" "Naja, wir haben die Textdatei 'Bibel.txt' dem Speller vorgeworfen und dann die Zeit gemessen, bis er alle Fehler darin gefunden hat. Das war 'ne ganz gute Benchmark. Hat meistens so 45 Minuten gedauert..." Den beiden ZJs treten die Augen aus den Höhlen. "Fehler? In der Bibel?!" "Massenhaft", bestätigt Leo ernsthaft nickend.

Die ZJs geben nicht auf. Zäh sind sie schon, das muss sogar ich zugeben. "Aber meinen Sie denn nicht, dass Sie sich auch das angekündigte Ende vorbereiten sollten? Wir könnten Ihnen doch zeigen, hier in der... äh... Bibel..." Leo schaut mich entsetzt an: "Ende? Wurde mein Kontrakt etwa nich' verlängert?!" Ich beruhige ihn. "Na, dann", meint Leo erleichtert, "Sie haben mir vielleicht einen Schrecken eingejagt... Da fällt mir ein, ich muss noch den neuen Scanner tunen..." und weg ist er. "Aber die... die Sintflut! Denken Sie doch mal an die Sintflut!" brüllt ihm der Jüngere hinterher. "Ja?" sage ich ruhig, "was ist damit?" Die beiden ZJs, etwas aus der Fassung gebracht, aber noch nicht geschlagen, konzentrieren sich wieder auf mich. "Äh.. ja, die Sintflut oder Sündflut, 1. Buch Moses 6 - 8, da sehen Sie doch, was wir jederzeit wieder gegenwärtig sein müssen, wenn wir weiter so gottlos leben wie bisher..."

Inzwischen ist es halb zwölf, Zeit fürs Mittagessen, und die Burschen gehen mir allmählich auf den Geist. "Erstens", sage ich, "kommt 'Sintflut' nicht von 'Sündflut', sondern von 'Sinvluot', was auf althochdeutsch einfach 'große Flut' bedeutet. Zweitens sind inzwischen die meisten Ihrer Mitmenschen begeisterte Surfer, Taucher, Segler und sonstige Wassersportler, die gegen ein bisschen mehr Wasserfläche bestimmt nichts einzuwenden hätten. Also was soll's?  Drittens weiß ich aus sicherer Quelle - ich habe nämlich erstaunliche Connections - dass in nächster Zeit ganz bestimmt keine Sintflut auf dem Programm steht. Und viertens geh ich jetzt zum Mittagessen. Aber vorher verrate ich Ihnen noch etwas, womit Sie Ihr nächstes Opfer beeindrucken können. Schlagen Sie mal die Offenbarung Johannes 8, 10-11 auf und lesen Sie vor!"

Der Jüngere gehorcht tatsächlich: "'Und der dritte Engel blies seine Posaune; da fiel ein großer Stern vom Himmel, der brannte wie eine Fackel und fiel auf den dritten Teil der Ströme und auf die Quellen. Und der Name des Sterns ist Wermut. Und der dritte Teil des Wassers wurde bitter, und viele Menschen starben von dem Wasser, weil es so bitter geworden war.'" Die beiden ZJs starren mich erwartungsvoll an. "Wissen Sie was 'Wermut' auf russisch heißt? Tschernobyl!" sage ich und gehe hinunter in die Cafete.

Copyright Florian Schiel 1996